Sie sind hier: Startseite Members webmaster REZENSION: Nora Kim Kurzewitz, Gender und Heilung. Die Bedeutung des Pentekostalismus bei Frauen in Costa Rica, Bielefeld: Transcript 2020

Artikelaktionen

REZENSION: Nora Kim Kurzewitz, Gender und Heilung. Die Bedeutung des Pentekostalismus bei Frauen in Costa Rica, Bielefeld: Transcript 2020

von Ulrike Sallandt

Mit ihrer an der Universität Heidelberg angenommenen Dissertation Gender und Heilung. Die Bedeutung des Pentekostalismus bei Frauen in Costa Rica (2020) legt Nora Kim Kurzewitz eine religionswissenschaftliche Studie vor, die einen Einblick in den Glauben an und die Überzeugungen von Heilung pentekostaler Frauen in Costa Rica gibt. Am Beispiel Alajuelas, der mit 2,6 Millionen zweitgrößten Stadt Costa Ricas, untersucht Kurzewitz die Wirkung von Heilung/Heilungspraktiken- und Methoden im pentekostalen katholischen und evangelischen Kontext, insbesondere auf Frauen. Kurzewitz’ Anliegen liegt darin, herauszuarbeiten, „welche Handlungs- und Entfaltungsmöglichkeiten [der Pentekostalismus] ihnen innerhalb der gegebenen Strukturen durch welche Ressourcen eröffnet“ (29). Unter Verweis auf die Argumentationsstruktur Saba Mahmoods (25), distanziert sich Kurzewitz von den Untersuchungsansätzen, die sich den Themen von Freiheit, Befreiung und Transformation in binärer/ dualistischer Denkweise nähern (28f.). Agency sei kein „Synonym für den Widerstand gegen Beherrschung, sondern die Fähigkeit zu handeln, die durch konkrete historisch bedingte Beziehungen der Unterordnung ermöglicht und geschaffen wird“ (25). Eine unkritische An- und Übernahme des binären Deutungsrahmens führe dazu, „dass Erfahrungen, Interpretationen und Bedürfnisse, die ihm nicht entsprechen, nicht wahrgenommen werden“ (29). Es geht Kurzewitz darum, hinter die traditionellen Zuschreibungen zu schauen. Während der dualistische Ansatz sich trotz allem Anschein nach den Deutungsmachtstrukturen des herrschenden Systems beugt, gelingt es Kurzewitz, jenseits dieses eindeutigen Systemdenkens für die innere Befreiung zu sensibilisieren, die die Frauen trotz, oder gerade wegen des Systems erfahren. Diese Herangehensweise ermöglicht, den Begriff Agency nicht systemimmanent aus der Perspektive des klassischen Gegensatzes von Macht und Ohnmacht zu verstehen, sondern ihn vielmehr darüber hinaus system-, d.h. selbstkritisch zu denken. Kurzewitz’ Studie basiert auf ausgewertetem empirischen Material eines Forschungsaufenthalts in Costa Rica von Februar bis Juli 2015, vor allem auf 88 Interviews, davon 66 narrative Interviews mit Frauen pentekostaler Kirchen, und weiteren 16 Interviews mit Frauen aus nicht pentekostalen Kirchen, Pfarrerinnen pentekostaler Kirchen und katholischen Priestern.

Eingeleitet wird die Studie im ersten Teil durch eine kritische Bestandsaufnahme des Pentekostalismus bzw. der Pentekostalismusforschung in Lateinamerika, insbesondere in Costa Rica, die vor allem dazu dient, die „Genealogie der Beziehungen zwischen der katholischen Kirche und evangelischen Denominationen“ aufzuzeigen bzw. darzustellen (38).   Im folgenden zweiten Teil der Studie analysiert und kontextualisiert Kurzewitz die „vom Heilungsdiskurs geprägten Glaubensüberzeugungen, -praktiken und -erfahrungen von Frauen“ pentekostaler Kirchen und Gemeinschaften (38). Schwerpunkt ihrer Analyse, dem Kern der Arbeit, liegt auf der inneren Heilung, die aber von der physischen und spirituellen nicht zu trennen sei (207). Kurzewitz untersucht Themen, Orte und Methoden der Heilung und vertieft ihre Darstellung anhand von Heilungsberichten. Erfahrungen häuslicher Gewalt seien bei der Mehrheit der Frauen der Grund für ihre Sehnsucht nach Heilung, die sie in diesen Kirchen Hilfe suchen lasse. Das Konzept der Selbstvergebung, der Vergebung durch andere oder durch Gott ermögliche einerseits einen „konstruktiven Umgang mit Schuld“, während andererseits „die Vergebung von Fehlverhalten anderer als zentral für den Umgang mit erlittenen Verletzungen gilt“ (208). Anhand von Beobachtungen der Funktion des Teufels, der Dämonen ermöglicht Kurzewitz einen Einblick in die pentekostale Befreiungspraxis. Den Dämonen wird die Urheberschaft von nicht funktionierenden Beziehungen und Verletzungen zugesprochen (210). Gemeinsam mit der Gebetspraxis, den Methoden der inneren Heilung (Heilungsgebet, Stellvertretungsgebet, theophostischer Gebetsdienst) beschreibt Kurzewitz nicht nur wie, sondern auch wo Frauen Befreiung erfahren. Jenseits des Gottesdienstes erörtert sie Beratungssituationen und kollektive Veranstaltungen (Kongresse, Vorträge, Kurse, Rüstzeiten).

Im dritten Teil verortet Kurzewitz den Heilungsdiskurs in den costa-ricanischen Kontext, der durch das Spannungsfeld der noch immer prägenden katholischen Amtskirche einerseits und der Laienreligiosität andererseits geprägt ist. Dabei verdeutlicht sie Gemeinsamkeiten und Differenzen zum Heilungsverständnis zwischen Amtskirche und nicht-pentekostalen Laiengruppen und pentekostalen Gruppen. Als Ähnlichkeit tritt vor allem die wichtige Rolle hervor, die Vergebung und geistlicher Kampf „für die psychische und spirituelle Heilung“ mit dem Ziel, „das Selbstwertgefühl der Frauen“ zu stärken, spielt (220). Der Unterschied zeige sich im „universalen katholischen Kirchenbegriff“, bei dem, im Gegensatz zum pentekostalen, eine starke institutionelle Dimension zum Tragen komme (220).

Abschließend wertet Kurzewitz im vierten Teil ihre zwei zentralen Ergebnisse aus: Kohärent zu ihrem Anliegen, deutet sie erstens auf der Grundlage einer „Naturalisierung von Freiheit und Autonomie des Subjekts“ (241) die Erfahrungen der untersuchten Frauen jenseits des „klassischen“ Systems. Dabei erkennt sie die transformative Macht, die die Frauen durch die Heilung erfahren, indem sie zum einen fähig werden, innerhalb gesetzter Strukturen ihre Handlungsoptionen wahrzunehmen; zum anderen darin, dass sie erkennen, dass sie mit ihrem Verhalten direkten Einfluss auf die eigene Lebenssituation nehmen können (242). Das Ideal der Frauen „besteht nicht in der Abwesenheit von Autorität über sie, sondern in einer verantwortungsvollen Gestaltung dieser Autorität“ (243), schlussfolgert Kurzewitz. Es handle sich demnach nicht um einen Widerstand der Frauen gegen das System, weder gegen das globale (Geschlechterhierarchie), noch gegen das lokale (Ehebündnis), sondern vielmehr um eine Stärkung „durch das transformierte Selbstkonzept“ und „der neuen Ressource der spirituellen Autorität“ (243). Diese Stärkung durch den pentekostalen Heilungsdiskurs, wertet Kurzewitz zweitens als „das Ergebnis denominationsüberschreitender Interaktionen auf lokaler und globaler Ebene“ (245). Dabei geht es ihr insbesondere darum, herauszustellen, wie wichtig es ist, die binären Strukturen und Terminologien von cristiano/evangélico versus religioso/católico zu überwinden (41-43), um auf die historische interkonfessionelle Verflechtung und transdenominationale Interaktion aufmerksam zu machen (245).   

Mit Gender und Heilung legt Nora Kim Kurzewitz eine Studie vor, die den Leser*innen eine erkenntnisreiche Innenperspektive in die Glaubenserfahrungen von Frauen im Kontext pentekostaler Heilungspraxis ermöglicht. Mittels der vom empirischen Material ausgehenden und sich an ihm orientierenden Analyse im Zentrum der Studie gelingt es Kurzewitz nicht nur theoretisch, den Anspruch, binäre/duale Denkstruktur aufzubrechen, zu erfüllen, sondern setzt ihren Anspruch methodisch mithilfe der Interviews überzeugend um. Diese Wirkung hätte möglicherweise durch weitere Information zu Biografie und Herkunft der jeweiligen Frauen verstärkt werden können. Ebenso wäre es methodisch m. E. ratsam gewesen, die Auswertung der Interviews, die nur kurz erwähnt wird, darzustellen bzw. sie im Anhang zu skizzieren, um so Grund und Kern der Arbeit, auch Nicht-Eingeweihten, einsichtiger zu machen. Das kritische Potential der Studie deutet Kurzewitz abschließend in den Implikationen an. Sie ebnet damit den Weg, sich nicht nur in der Pentekostalismusforschung, sondern auch in der Poimenik und Feministischen Theologie von Erfahrungen außerhalb des eigenen Systems heraufordern zu lassen. Insgesamt handelt es sich um einen äußerst lesenswerten Beitrag zur Pentekostalismus- und Genderforschung, der etablierte, jedoch problematische Verständnisse von Agency im Zusammenhang mit der Genderdebatte herausfordert.  

ISBN: 978-3-8376-5175-1 
272 Seiten  
40 €  
Weitere Verlagsinformationen...  
Zuletzt verändert: 20.01.2021 11:02